Dass ich immer mehr Zeit vor dem Fernseher verbrachte, war mir kaum aufgefallen. Bis das Biest eines Abends sein Leben aushauchte. Wegen der Sendung, die ich mir gerade angetan hatte, war es wirklich nicht schade, aber frustriert war ich doch. Bis mir klar wurde, dass ich so manches Mal gedacht hatte, ich könne auch mal was Besseres tun als zur Sofa-Kartoffel zu mutieren. Für‘s erste nahm ich mir den Abwasch vor, und zum Auftakt dieser Aktion drehte ich an meinem alten Küchenradio, um mich unterhalten zu lassen. Auf einem Sender kam nur Laber, laber, auf einem anderen irgendein seichter Pop, mit Reklame durchsetzt… Aber plötzlich rock-röhrte sie mir entgegen: Oh Lord, won‘t you buy me a Mercedes Benz…
Vor meinem Turmbau aus schmutzigem Geschirr fühlte ich mich in meine erste WG versetzt, wo der Abwasch wenigstens noch eine Gemeinschaftsaktion war, zu ähnlicher Musik, und gelegentlich war auch mal genau dieser Song dabei.
Erst die Absage ruft mir in Erinnerung, dass Janis Joplin eine aus dem 27er Club ist, eine von denen, die in exakt diesem Alter von der Bühne des Lebens abgetreten sind, noch bevor sie die Grenze der dreißig erreicht hatten. Trotzdem bezweifle ich, dass mir der Spruch aus jenen Tagen eingefallen wäre, wenn der Moderator ihn nicht gebracht hätte: Trau keinem über 30. Dabei habe ich den nicht nur gekannt, sondern auch beherzigt. Schließlich gehörten auch meine Eltern zu jener Gruppe, und sie boten kein nachahmenswertes Vorbild. So werden wie sie?! Dann lieber jung sterben.
Als ich mich vom dreißigsten Geburtstag noch Lichtjahre entfernt wähnte, konnte ich mir gar nicht vorstellen, diese Grenze zu erreichen, gar nicht zu reden vom Überschreiten. Als es dann doch geschah, hatte ich bereits zwei Suizidversuche hinter mir. Doch zu jener Zeit ging es mir recht gut, und ich dachte: Das hätte ich mir gar nicht zugetraut. Offensichtlich auch nicht viel anderes. Wenn Selbstvertrauen der Schlüssel zum Erfolg ist, dann blieb mir wegen dessen Fehlen so manche Tür verschlossen.
Was den berennenden Wunsch nach einem Mercedes betrifft, da kann ich sagen: So anspruchsvoll bin ich gar nicht. Ich fahre Rad und wäre schon glücklich, wenn ich mal wieder richtig Urlaub machen könnte. So weit weg wie nur möglich.
Mit dem nächsten Song ist tatsächlich noch einer aus dem 27-er Club dran: Jim Morrison. Darin die Zeile: Do you know we‘re ruled by TV?
Auf einmal finde ich es absolut in Ordnung, dass mein Fernseher den Geist aufgegeben hat — weil mir dämmert, dass ich in der letzten Zeit und in diesem einen Punkt tatsächlich dem Beispiel meiner Eltern gefolgt bin.
Wenig später stelle ich fest: So leicht und mühelos, geradezu unbeschwert, habe ich den Abwasch noch nie erledigt. Sonst will ich damit einfach nur fertig werden, so schnell wie möglich. Diesmal war ich in Gedanken bei der Musik und habe mich in die Vergangenheit entführen lassen.
Auf die Musiksendung folgen die Kurznachrichten: Nichts als Krisen rundherum, woraus wie ein steiler Gipfel die globale Finanzkrise herausragt. Noch so etwas, das in meiner Jugend anders war.
Da glaubten die meisten noch unerschütterlich an Wachstum ohne Ende. Während sich heute sogar die noch ziemlich Jungen Gedanken machen über ihre Alterssicherung. Die schon etwas älteren (soll heißen: jünger als ich mit nicht mehr vielen Jahren bis zu 2 mal dreißig) haben entweder schon lange Vorsorge betrieben oder bangen und jammern: Wie soll das bloß werden?
Fast kann ich mich darüber amüsieren, dass andere sich solche Sorgen machen — falls ich mich dabei ertappe, erinnere ich mich daran, dass ich immer noch den Notausstieg wählen kann.
Für heute abend habe ich noch etwas anderes vor: Ich werde den alten Plattenspieler wieder anwerfen, der nicht mehr so ganz rund läuft, und alte LPs sichten, die auch ihre Kratzer abbekommen haben. Nun ja, genau wie ich mit meinen siebenundzwanzig mal zwei. Meine Wahl fällt auf Jimi Hendrix: Auch einer von denen, die vor der Grenze der dreißig den Absprung geschafft haben. Ich mache sogar ein paar Drehungen durch meine Bude — als kleine Feier zum Abschied von der Sofa-Lümmelei und der Droge Fernsehen. Wie eine Kaleidoskop wirbeln mir dabei Szenen aus meiner Jugend durch den Kopf, in denen meine Mutter mit all ihren Ängsten und ihrer Neigung zu Kritik eine herausragende Rolle spielt. Mitten im Song Room full of mirrors bleibe ich wie erstarrt stehen. Spieglein, Spieglein, an der Wand?
Bin ich wirklich nur in Sachen Fernseh-Konsum dem elterlichen Beispiel gefolgt? War nicht mein ganzes bisheriges Leben geprägt von einem tiefsitzenden Misstrauen? Mag sein, dass es mit der Abwehr gegen alles, was meine Eltern mir vermitteln wollten, anfing, und das ließe sich durchaus als vernünftig bezeichnen.
Aber dann — habe ich mein Misstrauen etwa nicht auf das Leben selbst übetragen? Damit wäre ich dann brav den mütterlichen Indoktrinationen gefolgt.
Nun ja, wenn mensch erstmal bei der Arbeitsagentur gelandet ist, gibt es nicht mehr viele Gründe für Vertrauen. Und auch sonst sehe ich keinen Grund, Politikern oder irgendeinem System zu vertrauen, das von dieser Spezies kreiert wurde.
Aber wenn ich bei mir selbst bleibe und tiefer schaue: Wenn jemand, so wie ich, trotz Begabung und guter Ansätze, etwas daraus zu machen, nichts erreicht hat im Leben: Dann muss sich dieses Misstrauen wohl auch gegen mich sich selbst richten.
Wie war noch mein Vorsatz, lange bevor ich die magische dreißig erreicht hatte? Lieber jung sterben. Nun, warum nicht einfach — jung leben? Egal, wie mein Alter laut Ausweis sein sollte. (Unterschied zwischen errechnetem und gefühltem Alter.) Frida sorglos…. vielleicht muss ich gar nicht so misstrauisch sein mir selbst gegenüber? Wie wär‘s, wenn ich mal das ganze Leben mit dieser lockeren Haltung angehe, mit der ich das bizarre Polit-Theater samt Finanzkrise aus der Distanz betrachten kann?
Akzeptanz – die Haben-Seite betrachten und den Gewinn sehen.
Wenigstens glaube ich nicht mehr, dass Glück oder auch nur Zufriedenheit davon abhängt, mir jeden neuen Schnick-Schnack kaufen zu können. Diese Regelsätze für Langzeitarbeitslose verhelfen ganz entschieden zum Entzug von Konsumräuschen. Und darin liegt schließlich auch eine Art von Freiheit. Und sei es nur die, nicht mehr viel zu verlieren zu haben.
Und was möchte ich mit diesem Gefühl von Freiheit anfangen? Warum nicht das, was mir immer am meisten Freude gemacht hat — bis nach zahllosen Absagen die Luft raus war?
Einen neuen Roman schreiben!