Lange Zeit habe ich mich beim literarischen Schreiben auf Kurzformen beschränkt, und zwischen Märchen und Kurzgeschichten entstand auch immer wieder einmal ein Gedicht. Ungefähr um die Jahrtausendwende (ich hatte einen ersten und ziemlich ausufernden Roman „in Arbeit“) brach plötzlich eine ganze Flut von Gedichten über mich herein. Und anfangs konzentrierte sich diese Flut vorwiegend auf ein Thema: meine langen Jahre der Introspektion, das Aufarbeiten prägender Muster, mit dem Ziel, mich daraus zu befreien. Die meisten dieser Gedichte enden mit einem triupmphierenden Ton: Endlich sind die alten Hüllen abgestreift! Bald wurde eine weitere Befreiung notwendig: Von der Angewohnheit, jede Kleinigkeit durch die analytische Brille zu betrachten.
Darauf folgte Naturlyrik und eine ganze Serie von Gedichten, die sich mit kreativen Prozessen beschäftigen und den kreativen Ausdruck feiern. In der letzten Zeit ist Lyrik hinter Romanen und Sachtexten wieder weit in den Hintergrund gerückt — und wenn ich mal das Bedürfnis habe, etwas in lyrischer Form auszudrücken, dann kristallisiert sich dabei zumeist die eine Frage heraus: Wie gelingt es, inmitten von Trubel und äußeren Anforderungen in sich selbst zentriert zu bleiben? (Oder wieder in die eigene Mitte zu kommen, wenn mensch sich zu sehr veräußert hat). Darum geht es im Titelgedicht: Krähennest.
Aber erstmal eins der frühen Gedichte:
Nackt am Strand
Zuerst trug die Flut Vergangenes heran
in einem schier endlosen Strom
legte es vor meine Füße wie Strandgut
— ein unerwünschtes Geschenk.
Nein, dieses Treibgut wollte ich nicht. Nicht schon wieder!
Doch die Flut hörte nicht auf, mich zu bedrängen:
Nimm es und mach was damit!
Wo dies herkommt, da ist noch mehr!
Gut, ich hätte mich abwenden können —
doch ich blieb und beugte mich hinab
drehte und wendete die vielen Bruchstücke
zwischen Algen und Tang.
Staunend, verwirrt zuerst — bis ich sah, voller Schrecken:
All diese Einzelteile — das ist mein eigenes Skelett.
Erschreckt… verwirrt… verwundert…
Gerade dann und dort, inmitten von Chaos und Verwirrung
kann eine neue Ordnung entstehen.
Zuerst spielte ich nur damit
wie ein Kind mit einem Puzzle, in dem es keinen Sinn erkennt
— doch schließlich fügte sich alles zusammen:
jeder einzelne Knochen, jede Rippe, jedes Gelenk.
Zuerst nur in meiner Phantasie
dann in der Wirklichkeit des Körpers:
das Skelett wurde überzogen von neuem Fleisch
von Muskeln, Sehnen, Adern und neuer Haut.
Jetzt stehe ich nackt am Strand
besser zusammengefügt als je zuvor
frei von altem Ballast —
den gab ich der Flut zurück, dankbar
denn ich weiß: Das Zusammensetzen
all dieser unerbetenen Fundstücke
war Reinigung und Neuanfang zugleich
und wenn ich jetzt eintauche in die Flut
mich den Wellen hingebe, mich der Strömung überlasse…
dann geschieht es, um an neue Ufer zu gelangen.
Ganz gleich an welchem Ort ich wieder an Land gehe
ob altvertraut oder völlig unbekannt:
In meinen Augen hat alles den Glanz von Neuem.
Alte uralte Weiden
Ernst und würdevoll
stehn sie am Ufer
wie weise Frauen und Männer beim Ting.
Aus geborstner Rindenhaut
zerfurcht von Falten und Narben
streicht ihr sanfter Blick
über Wildblumenwogen zu ihren Wurzeln:
maigrün rosa weiss lichtblau.
Sie erinnern ihre biegsame Jugendgestalt
und andres, schmerzvoll und böse…
Hexenverbrennungen vielleicht…
In eine hat das Feuer
einen Durchgang gebrannt
in die Anderswelt.
Darüber malachitgrünes Flechtenhaar.
Alle tragen lebenden Schmuck auf den Häuptern:
Gräser Lichtnelken und bittersüßen Nachtschatten.
Krähennest
Nach einem Tag voller Tumulte
sitze ich im Park
vor mir der Teich
umgeben von einem Kreis aus Bäumen
Kraa! Kraa! Kraa!
Klingt, als vollzögen die Krähen den gleichen Übergang wie ich:
Die Unruhe des Tages hinter sich lassen
und einen Ruheplatz suchen.
Die schwarzen Vögel bereiten sich vor auf die Stille der Nacht,
während ich das Tor zum inneren Raum des Friedens öffne,
hoch über den turbulenten Gewässern des alltäglichen Lebens
— mein ganz eigenes Krähennest.
http://www.epubli.de/shop/autor/Frida-Kopp/3275