April-Närrin

Ein wunderbarer Apriltag
durchdrungen von wilder Lebenskraft:
Sonne auf grünem Gras
Knospen kurz vor der Explosion ins Licht
Jubelnd markieren Vögel ihre Reviere
Menschen genießen die Sonne.
Neben mir im Straßencafé
ein Baby – strampelnd zeigt es seine Kraft.

Während ich an Tod denke
meinen guten alten Freund
der mir oft schon half
sorglos zu bleiben.
Mutig gab ich eine schädliche Sicherheit auf,
das Neue ist noch nicht in Sicht — und die Angst wächst, wird breit und fett.
Vielleicht hilft mir Freund Tod diesmal sogar dabei,
alte Muster aufzubrechen,
ganz so, wie winzige Pflanzen
durch die schiere Kraft ihres Ja zum Leben
Steine zerspringen lassen.

Verwundeter Held

Der Wind klatscht den Regen gegen die Fensterscheiben — was für ein Kontrast zur Hitze im Golf von Aden. Immerhin: Das Unwetter spiegelt, wie es in mir aussieht. Also, wenn Mira das jetzt hören würde — ich glaube, sie wäre begeistert. Schließlich bohrt sie dauernd nach, nervt mich immer wieder mit der Fragerei, was in mir vorgeht! Am liebsten würde ich jetzt pennen, aber der Sturm lässt mich nicht.
Vor Somalia war es meistens die Hitze, die Schlaf verhinderte. Ansonsten ist der Alltag auf einem Marineschiff vor allem eins: eng. Weshalb einer der Funker unsere Fregatte die Galeere genannt hat. Weil alle viel zu dicht aufeinander hocken und sich gegenseitig auf die Nerven gehen. Diejenigen, die zu Hause eine Braut haben, nerven mit ihren Zweifeln, ob die Schlampe auch treu ist. Wenn ich ehrlich bin, wenigstens mir selbst gegenüber, war ich auch nicht besser.

Mira und ich, wir kennen uns schon seit der Schulzeit, und als ich zur Marine gegangen bin, hat sie angefangen zu studieren, ausgerechnet Sozialpädagogik, und ist in so ’ne Studenten-WG gezogen. Inzwischen ist sie fertig und steckt in einem Praktikum, für das sie so wenig Geld kriegt, dass es nie und nimmer für eine eigene Wohnung reichen würde. Ich war echt bereit, sie zu unterstützen, mehr als einmal hab‘ ich ihr angeboten, dass wir zusammenziehen. Sie hat sich glatt geweigert — obwohl ich doch sowieso die meiste Zeit nicht da gewesen wäre.
Klar, dass auch ich zu denen gehört habe, die ‚rum wunderten, ob ihre Braut sich nicht mit einem anderen vergnügt. Klar, dass auch ich zusammen mit einigen von unseren Jungs und den Franzosen in diese Bar gegangen bin, wo es echte Rassefrauen gibt, die sich einem geradezu an den Hals werfen. Superweiber — aber die Gelegenheiten zum Landgang sind selten, und wenn man da festhängt, die meiste Zeit auf dem Schiff mit anderen Kerlen zusammengepfercht — da braucht ein Mann nun mal ein bisschen Abwechslung. Das ist doch keine Untreue!

Die meisten von uns waren scharf auf das zusätzliche Geld — aber nicht wenige auch auf das Abenteuer. Klar, Piratenjagd — das klingt verlockend, sogar nach Heldentum. Davon hatte ich dann zum Schluss sogar mehr als genug. Wenn ich daran zurückdenke, an die Befreiung eines Frachtdampfers aus Piratengewalt: Da kann ich richtig stolz auf mich sein. Rein theoretisch. Denn ich bin ein verletzter Held, zur Zeit nicht diensttauglich. Wenn es mich wenigstens in einem richtigen Kampf erwischt hätte! Aber nein! Ausgerechnet so ein dämlicher Querschläger musste es sein, der mich an der Schulter erwischt hat.
Ich finde, wenn Mira sich schon für so einen sozialen Beruf entschieden hat — könnte sie da nicht ein bisschen mehr Verständnis für mich haben? Obwohl… wenn ich ehrlich sein soll, habe ich wirklich die Schnauze voll von Psycho-Freaks, die mir posttraumatische Belastungsstörungen unterjubeln wollen. Schon allein dieses Wort-Monster klingt bedrohlich — viel schlimmer als Piraten.
Und Mira — als ich sie gestern angerufen hab‘, wollte sie nicht mal herkommen, hat vorgeschlagen, dass wir uns morgen in einem Café treffen — nicht mal in ’ner anständigen Kneipe!

„Hallo Hannes. Na, wie geht’s?“ Diese Begrüßung wird begleitet von einem Küsschen auf die Wange.
„Wie soll’s schon gehen? Hast du nochmal drüber nachgedacht?“
„Du meinst…?“ Ungläubig sieht sie ihn an.
„Na, die gemeinsame Wohnung. Und warum nicht mit Brief und Siegel?“
„Du meinst: Heiraten?“
„Ja, klar.“
„Wäre das nicht etwas voreilig? Schau, es ist viel Zeit vergangen… Und wir beide, wir haben sehr unterschiedliche Leben geführt. Meinst du nicht auch, du solltest erstmal deine Kampfwunden kurieren?“
Offenbar nicht, denn sein Gesicht zieht sich zu einem verkniffenen Ausdruck zusammen.
„Ich meine jetzt nicht die körperliche Sache,“ fügt Mira hastig, hinzu. „Da bist du sicher in guten Händen. Aber ihr habt doch bei der Bundeswehr auch Psychologen…“
„Nicht Bund. Marine!“
Die Serviererin bringt ihr eine Tasse Kaffee und ihm ein Bier, und Mira müht sich mit dem mickrigen Milchdöschen, dann rührt sie um…. und um …, den Blick starr auf ihre Tasse gerichtet.
„Ich glaube, es gibt da doch einen anderen.“
„Nein. Gibt es nicht.“

Oh wei. Mein kaputter Held. Und jetzt möchte er zur Abwechslung den Ritter in schimmernder Rüstung mimen, der die arme Mira aus der Armut und dem harten Berufsleben rettet. Allmählich reicht’s mir wirklich. Lange genug habe ich versucht, ihm schonend beizubringen, dass wir schon längst keine gemeinsame Basis mehr haben. Falls wir die überhaupt jemals hatten. Bleibt mir wirklich nur die harte Tour?

So weit hat sie mich gebracht! Dass ich hier in der Kälte und Dunkelheit stehe und ihr Haus beobachte! Natürlich nicht ihr’s, sondern das, in dem diese WG haust. Kein Licht hinter ihrem Fenster. Was nicht viel bedeuten muss — im Gegenteil: Wenn sie einen ander’n hat, dann wird sie ja wohl zu dem gehen. Wer will schon in einer Wohngemeinschaft…
Auf jeden Fall ist da irgendwas im Busch, das spüre ich: Inzwischen will sie sich mit mir nicht mal mehr im Café blicken lassen — angeblich, weil ich zu laut werde, wenn mir was nicht passt! Einen Spaziergang im Park hat sie vorgeschlagen. Egal wie das Wetter ist. Sie behauptet, dass sie unbedingt frische Luft und Bewegung braucht, weil sie bei ihrem Praktikum den ganzen Tag drinnen ist. Und das soll ich ihr glauben?! Wo sie mir klipp und klar gesagt hat, ich soll nicht so oft anrufen?! Also, wenn ich mich nicht melde — würde sie es überhaupt jemals tun?!

Der Himmel ist grau, der Boden von feuchtem Laub bedeckt wie meistens im November, aber immerhin ist es trocken von oben. Trotzdem hat Mira ihre Kapuze über den Kopf gezogen.
In scharfem Ton fragt Hannes: „Wo warst du gestern?“
Sie starrt auf ihre Stiefel und presst die Lippen aufeinander.
„Zu Hause warst du jedenfalls nicht,“ setzt er nach.
Mira stößt hörbar den Atem aus und sieht ihm direkt in die Augen. „Ja. Es gibt einen anderen Mann in meinem Leben.“
Während sie hastig weiter spricht, macht sie einen Schritt zurück: „Es ist nichts wirklich Ernstes. Ich meine… Wir planen nichts mit gemeinsamer Wohnung und so… eben nicht so festgelegt…“
„Du… Du Schlampe. Du elende Schlampe!!“ Er packt sie an den Schultern und drückt sie mit dem Rücken gegen den nächsten Baum. Ja, er will sie haben, für sich allein, will sie in Besitz nehmen — doch Mira wehrt sich, schlägt mit der geballten Faust gegen seine Schulter. Sie trifft genau da, wo es noch weh tut. Ganz in der Nähe kläfft ein Hund. Irritiert schaut Hannes in Richtung des Gebells, und Mira nutzt die Gelegenheit, stößt ihn von sich und läuft…

Wenn meine Mitbewohner nicht so viel Druck gemacht hätten — ich glaube nicht, dass ich mich zu diesem Schritt überwunden hätte. Immer wieder hat er angerufen und tauchte sogar vor der Tür auf. Also: Ich an seiner Stelle — ich hätte mich geschämt. So auszurasten!
Natürlich habe ich mich verleugnen lassen, aber nach ein paar Tagen war ich so fertig, dass ich nicht mehr zur Arbeit gehen konnte. Außerdem habe ich mich nicht getraut — was, wenn er da auch noch Krawall gemacht hätte? Am liebsten hätte ich einfach die Flucht ergriffen, eine Freundin besucht, in der Hoffnung, dass er irgendwann aufhören würde mit diesem Wahnsinn.
Meine Mitbewohner mussten mich erst darauf hinweisen, dass sie dann immer noch hier wären. Da war ich drauf und dran, zu ihm raus zu laufen und ihm zu gestehen, dass ich diesen anderen Mann nur erfunden habe.
„Und dann?“
„Dann ist es eben wie gehabt. Ich treffe mich ab und zu mit ihm…“
Yvonne hat nicht locker gelassen: „Wollte er dich nun vergewaltigen oder nicht?“
Also habe ich es getan.

Eine gerichtliche Verfügung! Sie hat mir tatsächlich so einen Wisch zustellen lassen. Da steht drin, dass ich nicht mal mehr bei ihrer blöden WG an der Tür klingeln darf! Ich wollte doch nur wissen, wer der Kerl ist!
Inzwischen war ich bei diesem Psycho-Fritzen, wo ich die ganze Zeit nur geschimpft habe. Er hat gesagt, das wär‘ in Ordnung. Für den Anfang. Aber dann hat er geschwafelt, dass es eben nicht immer leicht wär, wieder in unsere Gesellschaft zurück zu finden.
Da muss ich ihm Recht geben. Manchmal denke ich, dass es diese Somalis doch richtig gut haben. Garantiert gehen die anders mit ihren Frauen um, und bei denen ist das was ganz Normales.

Diese Kurzgeschichte ist erstmals in der Anthologie „Raabe inspiriert“ erschienen, die in Folge eines literarischen Wettbewerbs des Vereins Braunschweigische Landschaft und des Baunschweiger Literaturzentrums im Raabe-Haus entstanden. Die Aufgabe war, sich von einem Text des Schriftstellers Wilhelm Raabe zu einer Kurzgeschichte anregen zu lassen, die einen Bezug zur Gegenwart hat.

Raabe inspiriert, ISBN 978-3-941737-64-8

Meereswandlung

Wenn draußen nichts mehr geht,

wenn kein Weg mehr sichtbar ist, der in die Weite führt,

dann bleibt nur: Rückzug nach innen

in die Geborgenheit von Ich-Selbst

wie unter die Kuppel einer Ei-Schale

als Heilungszeremonie.

Ein Ort, um der Frage nachzusinnen: Was will ich wirklich?

In der Abgeschiedenheit der Kuppel

öffnet sich Frei-Raum für Fantasie

Ja, sie ist immer noch stark wie das Meer

diese Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben…

Aber was, wenn doch kein Wunsch mehr bleibt,

der so dringend ist, dass er der Lebensflamme Nahrung gibt?

Im Rückzug nach innen erträume ich einen ganz anderen Anfang

den, der auf das Ende folgt,

erträume mir ein Märchen:

Es war einmal eine Meerjungfrau,

aus dem tiefsten Meer kam sie ans Ufer, erwartungsvoll, doch unsicher:

Wie sich bewegen in dem fremden Element

mit dem neuen Körper, in den sie gerade erst geschlüpft ist?

Wie konnte das geschehen?

Es gab ein Treffen, unter der Kuppel der Ei-Schale:

Das alte Selbst ging zum Meerestrand,

des Lebens müde, voller Angst stecken zu bleiben,

fürchtend, das Leben würde sich, wie zuvor,

nur zäh und zäher dahinschleppen:

vergebliche Arbeit, unbemerkt

hin und wieder eine leuchtende Idee — abgewiesen und dahinwelkend…

Das alte Selbst ist erfüllt von Sehnsucht nach dem Meer

Die Maid des Wassers, halb Frau, halb magisches Wesen

wünscht die Erfahrung der klar begrenzten Form.

Der Tausch wird vollzogen, indem sie einander grüßen

indem sie in den Spiegel schauen im Auge der anderen

indem sie sagen und anerkennen: „Ich bin Du und Du bist Ich.”

Einander umarmend ändern und wandeln sie die Gestalt

und wünschen einander “Lebe wohl”

Fischefrau

Die Dinge sind einfach unter der Kuppel einer Ei-Schale…

Im Spiegelkabinett der Ängste

Von allen Seiten wird „es“ projiziert

Ängste ezeugend:

„Ist nicht genug für alle da.“

„Um zu überleben,

müsst ihr kämpfen oder euch klein machen.“

Bei vielen kommt die Botschaft an: „Du leistest nicht genug!“

Sie ducken sich

werden krank

können nichts mehr leisten

schlucken Pillen

um weiter zu funktionieren.

Halt! Bleib steh’n

und sieh dich selbst

im Spiegel deiner Seele

in all deiner Größe

sieh dich im Spiegel der Natur

die gibt und gibt im Überfluss

Verbinde dich mit deinem inneren Kern

strahlend wie ein Edelstein

unzerstörbar.

Was, was denn du genau so wärst wie du erschaffen wurdest?

Sensibel und doch unzerstörbar?

Von innen heraus

kannst du die Zerrspiegel erkennen als das, was sie sind:

eine Angstmaschinerie, von jenen in Gang gesetzt,

die nie genug bekommen können

von deiner Energie,

die dich leersaugen wollen wie eine Frucht

die Schale und Kern achtlos wegwerfen.

Schamanische Reise in die Drachenhöhle

Wieder einmal hatte ich mich so verletzlich gefühlt in der Welt der Menschen, so hilflos und schwach ― ebenso sehr wie damals, als ich geflohen war und die Kraft eines schwarzen Drachen mir geholfen hatte. In meiner Not erinnerte ich mich an ihn, den alten schwarzen Drachen, und machte mich auf den Weg zu seiner Höhle.
Als ich endlich, nach einer langen, erschöpfenden Wanderung, vor dem dunklen Höhleneingang stehe, zögere ich. Hier draußen ist heller Tag. Aber waren für mich nicht auch die hellsten Tage oft voller Dunkelheit gewesen? Diese Art von Dunkel war es ja, die mich hierher geführt hat. Dennoch lodert jetzt Angst auf. Aber wohin sonst könnte ich mich wenden? Wozu habe ich diesen weiten Weg zurückgelegt, bis vor die Höhle des Drachen?
Also trete ich ein in die Dunkelheit. Wasser tropft von den Höhlenwänden. Sehen kann  ich es nicht, aber spüren und hören. Pling! Pling!, begleiten Wassertropfen meinen Weg. Zu ihrer Melodie — Pling! Pling! — setze ich Schritt vor Schritt. Je weiter ich in die Finsternis vordringe, umso mehr scheint sie sich aufzuhellen. Als dringe aus der Tiefe der Höhle  ein schwaches Leuchten, wie von klaren Kristallen. Also doch ein Drachenschatz? Aber wir waren uns doch einig, dass dieser Schatz aus Weisheit besteht.
Mein Herz zittert vor Erwartung, vor Furcht und Freude wie das eines Vogels in seinem Käfig, der sich nach Freiheit sehnt und doch davor fürchtet.
Als ich laute Atemgeräusche höre, nehme ich mit der Kraft meiner Vorstellung mein unruhiges Herz in beide Hände. Da lebt etwas! Etwas Bedrohliches? Warum fürchte ich mich? Ich bin doch vertraut mit dem Drachen. Aber seit unserer letzten Begegnung ist so viel Zeit vergangen… Verronnen, so wie das Wasser von den Höhlenwänden tröpfelt.
Vorsichtig tasten meine Füße über den Boden, näher und näher heran an das Atmen. Nur einen schattenhaften Umriss kann ich erkennen, eine Schwärze in der Dunkelheit. „Bist du es?” wage ich zu flüstern.
Er ist es, und er hat mich längst wahrgenommen, lange bevor ich ihn erkennen kann. Ich höre ein tiefes Grollen, und nun macht er mir Vorwürfe mit einer Stimme, die schwach klingt, nicht so tief und stark und mächtig wie ich sie erinnere.
„Meine Kraft wollte ich dir geben, und du hast sie nicht genommen. Jetzt ist sie zerflossen, ist faulig geworden wie stehendes Wasser.“
„Ich war gefangen im Gestrüpp der Menschenwelt, und es war nicht einfach, mich daraus zu lösen,“ stammele ich. „Es tut mir leid.“
„Leid! Leid! Auch ich habe gelitten. Zuerst haben die Menschen die Existenz des Drachengeschlechts völlig geleugnet. Wie endlos lange habe ich hier gehaust, verborgen und verlassen. Dann bist du gekommen, und es gab wieder Leben und Hoffnung. Und dann bist du wieder gegangen. Kraft, die nicht weitergegeben werden kann, verdirbt irgendwann.“
Er weint, weint faulige Tränen. Alles ist faulig und stinkend in der Höhle. So war es nicht, als ich zum ersten Mal hier war. Ich ekle mich davor und möchte am liebsten umkehren. Aber dieser Drache hat mir geholfen mit seiner Kraft, und ich mag ihn, ich vertraue ihm, und deshalb möchte ich irgend etwas tun für ihn. Warum nur hatte ich ihn vergessen? Weil ich meinte, mich zufrieden einrichten zu können in der normalen Menschenwelt?
So lange hat er vergebens gewartet im Dunkel…
Also überwinde ich meinen Ekel und berühre seine schwärende schwarze Schuppenhaut, doch ich fühle mich elend und schwach dabei. Gefühle, die schon da waren, bevor ich hierher zurückgekehrt bin. Und nur deshalb, weil ich mich so elend gefühlt hatte, habe ich mich erinnert an seine Drachenkraft. Die nun dahinschwindet. Meine Reue und mein Mitgefühl werden stärker als Ekel und Schwäche; und ich lege beide Arme um den mächtigen Drachenrumpf.
Seine bernsteingelben Drachenaugen leuchten auf vor Freude über die Berührung, leuchten warm und golden, viel heller als der kristallene helle Schein aus den Tiefen der Höhle. Er hebt den Kopf und stößt eine Feuerflamme aus wie eine Fackel, mit der er das zurückkehrende Leben feiert ― doch es scheint ihn große Anstrengung zu kosten. Und der faulige Schwefelgeruch, der ihn umgibt, wird stärker, wird beinah unerträglich.

Und dann ist es nicht mehr mein starker Drache, der die Feuerflammen beherrscht: Es ist entsetzlich ― er selbst wird vom Feuer verzehrt! Die Flammen verbrennen ihn, nähren sich von seinem Leib! Mein Drache zerfließt zu einer ekelhaften Lache, auf der die Flammen tanzen.
Entsetzt bin ich und traurig zugleich: Er, der so stark und mächtig war. Nur Asche bleibt zurück. Und ich fühle mich schuldig. Wäre ich doch nur früher zurückgekehrt!
Da entdecke ich inmitten der Asche ein Stück Kohle, und das beginnt von innen zu glühen — es leuchtet aus sich selbst heraus. Plötzlich wird die Luft ganz klar und rein. Und die eben noch rot-glühende Kohle liegt als goldener Klumpen da. Vorsichtig strecke ich die Hand danach aus und berühre ihn mit den Fingerspitzen. Der Goldklumpen ist nicht mehr heiß, sondern angenehm warm.
Aber was soll ich mit Gold, das nicht lebendig ist? Wieder werde ich von Verzweiflung überflutet: Ich war doch gekommen, den Drachen zu suchen. Und fand ihn sterbend. Einst schien er so Furcht einflößend ― und doch hat er mir geholfen mit seiner Drachenkraft. Er schien so gefährlich zu sein ― und war doch so sanft. War erst so stark und dann so schwach. Er atmete, lebte, spie Feuer, und nun ist er nicht mehr. Ich bin zu spät gekommen. Ich bin verzweifelt.
Als ich das eiförmige Gebilde vorsichtig mit beiden Händen umfasse, bin ich überrascht, wie leicht es ist. Und irgend etwas scheint darin zu pulsieren. Ist das sein Vermächtnis? Wenn er mir dies hinterlassen hat, was soll ich tun damit? Ich schließe die Augen, frage mich, wie und wo ich eine Antwort finden kann.
Da spüre ich eine Bewegung in der Höhlung meiner Hände. Ich erschrecke, doch da regt sich auch Neugier. Wenn ich jetzt die Augen öffne, werde ich dann die Antwort auf meine Frage finden?
Das goldene Ei ist aufgebrochen, und in meinen Händen bewegt ein winziges Drachenkind seine Flügel, erstaunt schaut es in die Welt, die eine dunkle Höhle ist. Es ist so klein, so zart, es wirkt so schutzlos.

Aber ich war doch die Schwache, die Schutz suchen wollte bei einem starken schwarzen Drachen! Die einen sterbenden Drachen fand, den seine Kraft verließ, der von seinem eigenen Feuer verbrannt wurde. Soll nun ich die Starke sein für ein schutzbedürftiges Drachenkind? Seine Haut ist noch kein fester Schuppenpanzer, sie fühlt sich sehr zart an. Und der Blick aus seinen dunklen Augen ist so vertrauensvoll. Wer Vertrauen zeigt, kann umso leichter verletzt werden. Diese Lektion habe ich gründlich gelernt.

Drachen, frisch geschlüpft
Ich blicke hinunter auf das winzige Wesen in der Wölbung meiner Hände und fühle mich ratlos. Und erschrecke furchtbar durch ein Rumpeln, Poltern und Krachen, das von allen Seiten zu kommen scheint. Es ist unter und über mir, umgibt mich ringsherum. Einen Moment stehe ich starr vor Schreck: Wird nun, da der alte Drache nicht mehr ist, die ganze Höhle zerfallen? Ich muss unbedingt das Drachenkind schützen! Dieses winzige Wesen ist seine Hinterlassenschaft. Und wenn ich verantwortlich bin, kann ich nicht einfach fliehen. Behütend schließe ich meine Hände um den winzigen Drachen, atme tief durch und wende mich um. Und sehe nichts als Steinhaufen, Felsentrümmer, Höhlentrümmer. Der Weg, auf dem ich gekommen bin, ist versperrt. Aber dort drüben: ein Riss in der Höhlenwand, wo zuvor keine Öffnung war, gerade breit und hoch genug, dass ich mich hindurch schlängeln kann, auf eine Hand gestützt, in der anderen halte ich vorsichtig das zarte Drachenwesen.

Draußen ist Nacht, doch es ist keine finstere Nacht: die Dunkelheit wird erhellt von Mond- und Sternenschein. Nächtliche Lichter über einer Landschaft, die zum Betreten einlädt. Ich richte mich auf, steige vorsichtig über Geröll hinweg und fühle mich sicher, als meine Füße weiches Gras berühren. Hohe Bäume bieten ihren Schutz an, und irgendwo in der Nähe plätschert eine Quelle…
„Komm, kleiner Drache, lass uns hinausgehen in die klare Nacht. Und dann lass uns sehen, was der kommende Tag uns zeigen wird.“

Lyrikband: Mein Krähennest

Lange Zeit habe ich mich beim literarischen Schreiben auf Kurzformen beschränkt, und zwischen Märchen und Kurzgeschichten entstand auch immer wieder einmal ein Gedicht. Ungefähr um die Jahrtausendwende (ich hatte einen ersten und ziemlich ausufernden Roman „in Arbeit“) brach plötzlich eine ganze Flut von Gedichten über mich herein. Und anfangs konzentrierte sich diese  Flut vorwiegend auf ein Thema: meine langen Jahre der Introspektion, das Aufarbeiten prägender Muster, mit dem Ziel, mich daraus zu befreien. Die meisten dieser Gedichte enden mit einem triupmphierenden Ton: Endlich sind die alten Hüllen abgestreift! Bald wurde eine weitere Befreiung notwendig: Von der Angewohnheit, jede Kleinigkeit durch die analytische Brille zu betrachten.

Darauf folgte Naturlyrik und eine ganze Serie von Gedichten, die sich mit kreativen Prozessen beschäftigen und den kreativen Ausdruck feiern. In der letzten Zeit ist Lyrik hinter Romanen und Sachtexten wieder weit in den Hintergrund gerückt — und wenn ich mal das Bedürfnis habe, etwas in lyrischer Form auszudrücken, dann kristallisiert sich dabei  zumeist die eine Frage heraus: Wie gelingt es, inmitten von Trubel und äußeren Anforderungen in sich selbst zentriert zu bleiben? (Oder wieder in die eigene Mitte zu kommen, wenn mensch sich zu sehr veräußert hat). Darum geht es im Titelgedicht: Krähennest.

Aber erstmal eins der frühen Gedichte:

Nackt am Strand

Zuerst trug die Flut Vergangenes heran

in einem schier endlosen Strom

legte es vor meine Füße wie Strandgut

ein unerwünschtes Geschenk.

Nein, dieses Treibgut wollte ich nicht. Nicht schon wieder!

Doch die Flut hörte nicht auf, mich zu bedrängen:

Nimm es und mach was damit!

Wo dies herkommt, da ist noch mehr!

Gut, ich hätte mich abwenden können —

doch ich blieb und beugte mich hinab

drehte und wendete die vielen Bruchstücke

zwischen Algen und Tang.

Staunend, verwirrt zuerst — bis ich sah, voller Schrecken:

All diese Einzelteile — das ist mein eigenes Skelett.

Erschreckt… verwirrt… verwundert…

Gerade dann und dort, inmitten von Chaos und Verwirrung

kann eine neue Ordnung entstehen.

Zuerst spielte ich nur damit

wie ein Kind mit einem Puzzle, in dem es keinen Sinn erkennt

doch schließlich fügte sich alles zusammen:

jeder einzelne Knochen, jede Rippe, jedes Gelenk.

Zuerst nur in meiner Phantasie

dann in der Wirklichkeit des Körpers:

das Skelett wurde überzogen von neuem Fleisch

von Muskeln, Sehnen, Adern und neuer Haut.

Jetzt stehe ich nackt am Strand

besser zusammengefügt als je zuvor

frei von altem Ballast —

den gab ich der Flut zurück, dankbar

denn ich weiß: Das Zusammensetzen

all dieser unerbetenen Fundstücke

war Reinigung und Neuanfang zugleich

und wenn ich jetzt eintauche in die Flut

mich den Wellen hingebe, mich der Strömung überlasse…

dann geschieht es, um an neue Ufer zu gelangen.

Ganz gleich an welchem Ort ich wieder an Land gehe

ob altvertraut oder völlig unbekannt:

In meinen Augen hat alles den Glanz von Neuem.

Alte uralte Weiden

Ernst und würdevoll

stehn sie am Ufer

wie weise Frauen und Männer beim Ting.

Aus geborstner Rindenhaut

zerfurcht von Falten und Narben

streicht ihr sanfter Blick

über Wildblumenwogen zu ihren Wurzeln:

maigrün rosa weiss lichtblau.

Sie erinnern ihre biegsame Jugendgestalt

und andres, schmerzvoll und böse…

Hexenverbrennungen vielleicht…

In eine hat das Feuer

einen Durchgang gebrannt

in die Anderswelt.

Darüber malachitgrünes Flechtenhaar.

Alle tragen lebenden Schmuck auf den Häuptern:

Gräser Lichtnelken und bittersüßen Nachtschatten.

Krähennest

Nach einem Tag voller Tumulte

sitze ich im Park

vor mir der Teich

umgeben von einem Kreis aus Bäumen

Kraa! Kraa! Kraa!

Klingt, als vollzögen die Krähen den gleichen Übergang wie ich:

Die Unruhe des Tages hinter sich lassen

und einen Ruheplatz suchen.

Die schwarzen Vögel bereiten sich vor auf die Stille der Nacht,

während ich das Tor zum inneren Raum des Friedens öffne,

hoch über den turbulenten Gewässern des alltäglichen Lebens

  — mein ganz eigenes Krähennest.

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Der weinende Stein

Zu einer Zeit, als noch ein sehr großer Teil der Erde von dichten Wäldern bedeckt war, lebte ein Magier namens Merlin. Er hatte bereits ein langes Leben gelebt und die Erde und ihre Gaben geachtet. Wie sonst hätte er Magie wirken sollen, wenn nicht in Einklang mit der Natur?

Doch dann waren Fremde in sein Land eingedrungen, und die hatten nicht nur fremde Sitten mitgebracht, sondern auch einen fremden Gott. In dessen Namen gingen sie auf Eroberungszüge und trieben Raubbau an der Natur.

Zwar kämpften die Menschen im Land des Magiers gegen die Eindringlinge, doch dauerte es nicht lange, bis sie sich so Manches von den Fremden abschauten. Wie die Eindringlinge gestanden sie den Frauen weniger Rechte zu als den Männern. Merlin hatte eine begabte Schülerin namens Nimuë, und die war erzürnt über die Veränderungen, die sie voraussah: Die fehlende Achtung vor den Frauen und der Natur würde Leid und ein nie zuvor gekanntes Ausmaß an Zerstörung bringen. Und da ihr Lehrer, der als größter Magier seiner Zeit galt, sich immer weiter vom Einklang mit der Natur entfernte, war sie ihm bald an magischer Kraft überlegen. Getrieben von ihrem Zorn nutzte sie diese Kraft, um ihren Lehrer in einen Felsen zu bannen.

Sein Körper war also eingeschlossen in einen Fels auf einer Waldlichtung, doch als Magier konnte er seinen Geist weit über die Erde schweifen lassen, und so sah er, wie Männer die Erde, ebenso wie die Frauen, immer stärker missbrauchten. Ohne jede Möglichkeit des Eingreifens musste er zusehen, wie Wälder gnadenlos abgeholzt wurden, wie dem Boden die unterirdischen Schätze entrissen wurden, wie Äcker nicht mehr in Einklang mit der Natur bestellt wurde. Und er sah die Folgen dieser Unterdrückung der weiblichen Kraft: Überschwemmungen und Bodenerosion, Vergiftung des Wassers und des einst so fruchtbaren Bodens.

Schließlich rührte sich im versteinerten Merlin etwas, das ihm während seiner letzten Jahre als mächtiger Magier mehr und mehr abhanden gekommen war. Er empfand tiefes Mitgefühl: Mit den Frauen und Kindern dieser Welt, mit den Pflanzen, den Tieren, der Erde, sogar mit den Steinen und dem Wasser. Und da begannen seine Tränen zu fließen, ganz langsam bahnten sie sich ihren Weg hinaus aus dem Fels. Zuerst war es nur ein zaghaftes Tröpfeln aus seinem versteinerten Gesicht.

 

Irgendwann, nach langer, sehr langer Zeit kommt Nimuë mit der Neuigkeit zu ihm, dass eine Zeitenwende bevorsteht. Und sie tut noch mehr: Als sie das Rinnsal aus Tränen bemerkt, streichelt sie sanft über das Steingesicht. Da wird aus dem spärlichen Tröpfeln eine klare Quelle, die im zuvor ausgedörrten Boden Samenkörner weckt und zum Sprießen bringt. Als sich im Teppich aus Gras erste zarte Blütenkelche öffnen, gesellen sich zu Merlins Tränen der Trauer solche der Freude, und die verstärken noch den Fluss des reinen Wassers. Da befreit Nimuë ihren einstigen Lehrer aus dem Stein.