Einfach nur Sein und Erlauben

Die Aufgaben bis in den Abend hinein waren aufgestapelt:
Schreiben, dies noch lesen,
nach jener Information suchen
und dazwischen noch diese oder jene Kleinigkeit erledigen.
Und dann, mittendrin:
Keine Lust mehr zu gar nix.

Einfach nur: dasitzen, atmen, ein und aus…

Zuerst kommt es mir vor wie Verweigerung
als wäre ich in den Streik getreten gegen mich selbst.
Und doch scheint es in diesem Moment das einzig Richtige:
Einfach nur sein.

Gedanken gehen auf Wanderschaft
weit zurück in die Vergangenheit, in die Kinderzeit:
Nie schien es zu passen,
nie den Wünschen und Erwartungen zu entsprechen,
dieses Mädchen, das ich einst war:
So klein und verletzlich sieht es aus,
ängstlich blicken die Augen in die Welt.

Chris-Frida-klein

Liebevoll schließe ich es in meine Arme,
und erlaube uns, einfach nur da zu sein…

und dann, irgendwann…
wird mir klar: Was ich da tue –
das ist viel wichtiger als all die aufgetürmten Kleinigkeiten:
Das ist Heilung.
Ich erlaube, dass Heilung aufsteigt, tief von innen heraus.

So lange waren die kindlichen Ängste eingeschlossen im Innern,
immer wieder hervor drängend,
immer wieder zurück gestopft…
Ich umarme das scheinbar so zarte, verletzliche Kind,
dass doch so stark war,
und ich lasse mich umarmen, bis wir verschmelzen zu Ganzheit

Verletzlich oder Perfekt?

Verletzbar sein – oder perfekt?
Verletzlich?! Aber nicht doch!
Klingt das etwa nicht nach dem ewigen Opfer, nach Weinerlichkeit?
Nach der Haltung des „Rühr mich nicht an! –
Sonst brech‘ ich in Tränen aus!“

Dagegen Perfekt-Sein –
das klingt doch toll!
Perfekt – das bedeutet doch: fehler-los, tadel-los
bedeuten: unangreifbar.
Perfekt – ohne jegliche Motivation,
irgendetwas zu verändern, neue Räume zu erforschen – also:
Starr sein. Nichts Neues entdecken wollen
– ist doch schon alles da, in Perfektion.

Verletzlichkeit: das ist die Bereitschaft, genau hinzuschauen
– nicht nur den Blick auf andere richten –
um entweder bewundernswerte Größe zu entdecken
oder aber Mängel, die Anlass bieten zur Kritik
sondern sich selbst bis tief ins Herz zu sehen,
und nackt vor den Spiegel zu treten.
Wo bin ich, die ich wirklich bin?
Wo spiele ich ein falsches Spiel?
Nicht mehr im Einklang mit meinem tiefsten Sein?
Verletzlichkeit macht bereit zur Ver-Wandlung dessen,
was nicht mehr stimmig ist.

Wer sollte den Standard setzen? Dies ist perfekt – jenes nicht!
Menschen haben eine Welt erschaffen,
wo vermeintlicher Wert bestimmt wird
durch Erreichen
durch Schaffen
durch Haben
– nicht durch das Sein.
Die Erde mag wunderbare Seiten haben –
keine ist angelegt auf Perfektion.
Alles ist in Bewegung, in ständiger Wandlung begriffen.

Zwei Voegel

Welche Schwachpunkte verbirgt sich hinter dem Streben nach Perfektion?
Ist Verletzlichkeit wirklich Schwäche?

Die allten Geschichten

Buchrücken-Mängel

All die alten Geschichten
immer wieder im Kopf rezitiert
oder gar laut vorgetragen
ob spannend oder langweilig
ob von Sieg oder Niedelage erzählend
ob von Liebe oder Einsamkeit:
sie dienten dazu, ein Selbstbild festzuschreiben
und mit jeder Wiederholung verfestigt es sich.

Egal, ob die Story gefällt oder nicht:
Irgendwann scheint das Bild vom Ich unverrückbar
und die Frage taucht auf: War‘s das?
Kommt da nichts Neues mehr?

Die alten Geschichten loslassen erfordert Mut
bedeutet: nackt vor dem Spiegel stehen,
der nicht länger ein deutliches Bild zurückwirft,
Bedeutet: Weit offen sein, verletzlich, unsicher…
und doch: es könnte sich lohnen,
sich selbst neu zu erfinden…

Aliena_Illusion

Schamanische Reise in die Drachenhöhle

Drachenfrau B

Wieder einmal hatte ich mich so verletzlich gefühlt in der Welt der Menschen, so hilflos und schwach ― ebenso sehr wie damals, als ich geflohen war und die Kraft eines schwarzen Drachen mir geholfen hatte. In meiner Not erinnerte ich mich an ihn, den alten schwarzen Drachen, und machte mich auf den Weg zu seiner Höhle.
Als ich endlich, nach einer langen, erschöpfenden Wanderung, vor dem dunklen Höhleneingang stehe, zögere ich. Hier draußen ist heller Tag. Aber waren für mich nicht auch die hellsten Tage oft voller Dunkelheit gewesen? Diese Art von Dunkel war es ja, die mich hierher geführt hat. Dennoch lodert jetzt Angst auf. Aber wohin sonst könnte ich mich wenden? Wozu habe ich diesen weiten Weg zurückgelegt, bis vor die Höhle des Drachen?
Also trete ich ein in die Dunkelheit. Wasser tropft von den Höhlenwänden. Sehen kann ich es nicht, aber spüren und hören. Pling! Pling!, begleiten Wassertropfen meinen Weg. Zu ihrer Melodie — Pling! Pling! — setze ich Schritt vor Schritt. Je weiter ich in die Finsternis vordringe, umso mehr scheint sie sich aufzuhellen. Als dringe aus der Tiefe der Höhle ein schwaches Leuchten, wie von klaren Kristallen. Also doch ein Drachenschatz? Aber wir waren uns doch einig, dass dieser Schatz aus Weisheit besteht.
Mein Herz zittert vor Erwartung, vor Furcht und Freude wie das eines Vogels in seinem Käfig, der sich nach Freiheit sehnt und doch davor fürchtet.
Als ich laute Atemgeräusche höre, nehme ich mit der Kraft meiner Vorstellung mein unruhiges Herz in beide Hände. Da lebt etwas! Etwas Bedrohliches? Warum fürchte ich mich? Ich bin doch vertraut mit dem Drachen. Aber seit unserer letzten Begegnung ist so viel Zeit vergangen… Verronnen, so wie das Wasser von den Höhlenwänden tröpfelt.
Vorsichtig tasten meine Füße über den Boden, näher und näher heran an das Atmen. Nur einen schattenhaften Umriss kann ich erkennen, eine Schwärze in der Dunkelheit. „Bist du es?” wage ich zu flüstern.
Er ist es, und er hat mich längst wahrgenommen, lange bevor ich ihn erkennen kann. Ich höre ein tiefes Grollen, und nun macht er mir Vorwürfe mit einer Stimme, die schwach klingt, nicht so tief und stark und mächtig wie ich sie erinnere.
„Meine Kraft wollte ich dir geben, und du hast sie nicht genommen. Jetzt ist sie zerflossen, ist faulig geworden wie stehendes Wasser.“
„Ich war gefangen im Gestrüpp der Menschenwelt, und es war nicht einfach, mich daraus zu lösen,“ stammele ich. „Es tut mir leid.“
„Leid! Leid! Auch ich habe gelitten. Zuerst haben die Menschen die Existenz des Drachengeschlechts völlig geleugnet. Wie endlos lange habe ich hier gehaust, verborgen und verlassen. Dann bist du gekommen, und es gab wieder Leben und Hoffnung. Und dann bist du wieder gegangen. Kraft, die nicht weitergegeben werden kann, verdirbt irgendwann.“
Er weint, weint faulige Tränen. Alles ist faulig und stinkend in der Höhle. So war es nicht, als ich zum ersten Mal hier war. Ich ekle mich davor und möchte am liebsten umkehren. Aber dieser Drache hat mir geholfen mit seiner Kraft, und ich mag ihn, ich vertraue ihm, und deshalb möchte ich irgend etwas tun für ihn. Warum nur hatte ich ihn vergessen? Weil ich meinte, mich zufrieden einrichten zu können in der normalen Menschenwelt?
So lange hat er vergebens gewartet im Dunkel…
Also überwinde ich meinen Ekel und berühre seine schwärende schwarze Schuppenhaut, doch ich fühle mich elend und schwach dabei. Gefühle, die schon da waren, bevor ich hierher zurückgekehrt bin. Und nur deshalb, weil ich mich so elend gefühlt hatte, habe ich mich erinnert an seine Drachenkraft. Die nun dahinschwindet. Meine Reue und mein Mitgefühl werden stärker als Ekel und Schwäche; und ich lege beide Arme um den mächtigen Drachenrumpf.
Seine bernsteingelben Drachenaugen leuchten auf vor Freude über die Berührung, leuchten warm und golden, viel heller als der kristallene helle Schein aus den Tiefen der Höhle. Er hebt den Kopf und stößt eine Feuerflamme aus wie eine Fackel, mit der er das zurückkehrende Leben feiert ― doch es scheint ihn große Anstrengung zu kosten. Und der faulige Schwefelgeruch, der ihn umgibt, wird stärker, wird beinah unerträglich.

Drachenei

Die Flammen verbrennen ihn, nähren sich von seinem Leib! Mein Drache zerfließt zu einer ekelhaften Lache, auf der die Flammen tanzen.
Entsetzt bin ich und traurig zugleich: Er, der so stark und mächtig war. Nur Asche bleibt zurück. Und ich fühle mich schuldig. Wäre ich doch nur früher zurückgekehrt!
Da entdecke ich inmitten der Asche ein Stück Kohle, und das beginnt von innen zu glühen — es leuchtet aus sich selbst heraus. Plötzlich wird die Luft ganz klar und rein. Und die eben noch rot-glühende Kohle liegt als goldener Klumpen da. Vorsichtig strecke ich die Hand danach aus und berühre ihn mit den Fingerspitzen. Der Goldklumpen ist nicht mehr heiß, sondern angenehm warm.
Aber was soll ich mit Gold, das nicht lebendig ist? Wieder werde ich von Verzweiflung überflutet: Ich war doch gekommen, den Drachen zu suchen. Und fand ihn sterbend. Einst schien er so Furcht einflößend ― und doch hat er mir geholfen mit seiner Drachenkraft. Er schien so gefährlich zu sein ― und war doch so sanft. War erst so stark und dann so schwach. Er atmete, lebte, spie Feuer, und nun ist er nicht mehr. Ich bin zu spät gekommen. Ich bin verzweifelt.
Als ich das eiförmige Gebilde vorsichtig mit beiden Händen umfasse, bin ich überrascht, wie leicht es ist. Und irgend etwas scheint darin zu pulsieren. Ist das sein Vermächtnis? Wenn er mir dies hinterlassen hat, was soll ich tun damit? Ich schließe die Augen, frage mich, wie und wo ich eine Antwort finden kann.
Da spüre ich eine Bewegung in der Höhlung meiner Hände. Ich erschrecke, doch da regt sich auch Neugier. Wenn ich jetzt die Augen öffne, werde ich dann die Antwort auf meine Frage finden?
Das goldene Ei ist aufgebrochen, und in meinen Händen bewegt ein winziges Drachenkind seine Flügel, erstaunt schaut es in die Welt, die eine dunkle Höhle ist. Es ist so klein, so zart, es wirkt so schutzlos.

Aber ich war doch die Schwache, die Schutz suchen wollte bei einem starken schwarzen Drachen! Die einen sterbenden Drachen fand, den seine Kraft verließ, der von seinem eigenen Feuer verbrannt wurde. Soll nun ich die Starke sein für ein schutzbedürftiges Drachenkind? Seine Haut ist noch kein fester Schuppenpanzer, sie fühlt sich sehr zart an. Und der Blick aus seinen dunklen Augen ist so vertrauensvoll. Wer Vertrauen zeigt, kann umso leichter verletzt werden. Diese Lektion habe ich gründlich gelernt.
Ich blicke hinunter auf das winzige Wesen in der Wölbung meiner Hände und fühle mich ratlos. Und erschrecke furchtbar durch ein Rumpeln, Poltern und Krachen, das von allen Seiten zu kommen scheint. Es ist unter und über mir, umgibt mich ringsherum. Einen Moment stehe ich starr vor Schreck: Wird nun, da der alte Drache nicht mehr ist, die ganze Höhle zerfallen? Ich muss unbedingt das Drachenkind schützen! Dieses winzige Wesen ist seine Hinterlassenschaft. Und wenn ich verantwortlich bin, kann ich nicht einfach fliehen. Behütend schließe ich meine Hände um den winzigen Drachen, atme tief durch und wende mich um. Und sehe nichts als Steinhaufen, Felsentrümmer, Höhlentrümmer. Der Weg, auf dem ich gekommen bin, ist versperrt. Aber dort drüben: ein Riss in der Höhlenwand, wo zuvor keine Öffnung war, gerade breit und hoch genug, dass ich mich hindurch schlängeln kann, auf eine Hand gestützt, in der anderen halte ich vorsichtig das zarte Drachenwesen.

Draußen ist Nacht, doch es ist keine finstere Nacht: die Dunkelheit wird erhellt von Mond- und Sternenschein. Nächtliche Lichter über einer Landschaft, die zum Betreten einlädt. Ich richte mich auf, steige vorsichtig über Geröll hinweg und fühle mich sicher, als meine Füße weiches Gras berühren. Hohe Bäume bieten ihren Schutz an, und irgendwo in der Nähe plätschert eine Quelle…
„Komm, kleiner Drache, lass uns hinausgehen in die klare Nacht. Und dann lass uns sehen, was der kommende Tag uns zeigen wird.“

Drachen, frisch geschlüpft