Rena ist nach Studium und diversen Praktika mal wieder arbeitslos und nicht mehr motiviert, sich den nächsten Praktikumsplatz oder irgend einen Job zu suchen, nur um „in Arbeit“ zu sein. Die Zeiten der Losigkeit hat sie genutzt, um ihre kreative Seite auszuleben.
Sie tut sich mit dem Schauspieler Till zusammen, der während einer Auszeit vom Rollenspiel in einem Kleingarten haust. Die beiden fangen klein an, mit Straßentheater, was sich zu Kabarett-Auftritten auswächst.
Da Till schwul ist, kann aus den beiden auf keinen Fall ein Paar werden, dafür aber eine wunderbare Freundschaft wachsen, und dieses Thema taucht auch in anderen Szenen auf, zum Beispiel in der Jazz-Kneipe Alt-Sax, wo gegen Dumping-Löhne und die ungerechte Verteilung von Arbeit, Zeit und Geld gewettert und für bedingungsloses Grundeinkommen plädiert wird. Wie das Leben so spielt kommen von anderer Seite Vorwürfe: Schließlich verschlingen Arbeitslose das Geld der Steuerzahler.
Während andere Urlaub machen, purzelt Rena ins finstere Mittelalter, wobei sie Parallelen zu den Erfahrungen ihres aktuellen Lebens ent- deckt.
Fast hätte ich die Wasserschildkröte ver- gessen: die taucht auch gelegentlich auf.
Leseprobe
Rena springt auf, schwingt sich auf ihr Rad und fährt zu den Weiden am Wasser, wo sie in ihr Leben als Hexe eingetaucht ist. Doch Ruhe oder gar ein Trance-Zustand wollen sich nicht einstellen. Stattdessen pendeln ihre Gedanken hin und her zwischen der Angst vor dem nächsten Auftritt und der Sorge, was nach der Kürzung ihrer Bezüge nun wohl als nächstes von der Arrg! Grrh! kommen mag.
Nach kurzer Zeit gibt sie auf: Wär‘ ja auch zu einfach, wenn das auf Befehl klappen würde. Dann lieber zurück zu dem, was die innere Unruhe vertreiben hilft: Radfahren. Über Huckel und Grasnarben, und dann auch noch mit voller Kraft einen Hügel hinauf. Dort hat sie im vergangenen Jahr wilde Brombeeren entdeckt. Dafür ist es zwar noch zu früh — aber dazwischen gab es auch ein paar Ranken, die nach Himbeeren aussahen. Plötzlich, nur wenige Schritte von dem Gestrüpp entfernt, steckt das Vorderrad in einer Kuhle fest, — sicher das Werk von Kaninchen — und wie im Zeitlupentempo neigt sich das Rad zur Seite. Und doch gelingt es ihr nicht, den Sturz aufzuhalten. Ihr letzter Gedanke, bevor ihr Kopf auf dem Boden aufschlägt: Blöde Karnickel!
Weil es solch ein besonderer Anlass ist, trägt sie ihr bestes Kleid, aus schwerem blauen Samt mit Bordüren aus Silberfäden, und eine dazu passende Haube. Das einzige, was ihr erleichtert, ein trauriges Gesicht zu zeigen, das ist die bange Frage, wie sie allein mit allem klar kommen soll: Die Hörigen beaufsichtigen, zur Arbeit anhalten. Sicher, als Gutsherrin ist sie es gewohnt, Befehle zu erteilen: Aber in ihrem Reich, wo sie über die Küche, den Garten und das Hühnervieh herrscht, da geht es ruhig und friedlich zu. Die Untergebenen mögen die Herrin und folgen ihren Anweisungen. Vermutlich sind alle ebenso erleichtert wie sie selbst, weil Richard, ihr jähzorniger Gemahl, nun für lange Zeit fort sein wird. Der Seufzer lässt sich einfach nicht unterdrücken: Dafür lässt er John, seinen jüngeren Bruder, als Stellvertreter zurück — und der steht Richard im Jähzorn nichts nach und säuft mehr als ihm gut tut. Ihrem Gemahl gehorchen die Leute nicht nur, weil sie Angst vor ihm haben. Er ist nun einmal ihr Herr, und als solcher darf er seinem Zorn freien Lauf lassen. Aber von ihm wissen sie, dass er seine Leute, wenn es nötig sein sollte, schützen wird. Der Jüngere aber, John — der ist nichts als ein Tunichtgut. Was, wenn die Hörigen sich auflehnen sollten? Auf einem anderen Gut ist so etwas schon geschehen.
John hat bereits vor einigen Jahren an einem Kreuzzug teilgenommen. Seit seiner nicht unbeschadeten Rückkehr trinkt er noch mehr als zuvor, und seine Stimmungen wechseln unvorhersehbar zwischen dumpfem Brüten und heftig aufbrausendem Zorn. Er spricht nicht über das, was er bei den Sarazenen erlebt hat.
Der Geistliche darf natürlich nicht fehlen, wenn es auf Kreuzzug geht. Als Pater Christopher seine Litanei anstimmt, senkt Gunna den Kopf und beißt sich auf die Lippen. Im Haus ihres Vaters hat sie Lesen und Schreiben und sogar ein wenig Latein gelernt, und daher weiß sie, dass der Pater nicht viel von dem versteht, was er da intoniert. Bevor sie anfängt zu lachen, hängt sie lieber ihren ketzerische Gedanken über die Männerwelt nach: Land und Leute im Stich lassen, um in den Krieg zu ziehen, und Priester, die das Töten und Sterben segnen!
Mechanisch nimmt sie an der Andacht teil, kniet mit den anderen zum Gebet nieder, erhebt sich wieder. Einmal, beim Aufstehen, trifft ihr Blick auf den des Verwalters, Mort. Er sieht sie oft so an. Eindringlich, ohne dass sein Blick etwas Aufdringliches hätte.
Für Rena ist es, als fände sie sich als Hauptperson in einem Film wieder, der wie im Zeitraffer um sie herum abläuft, um bei Schlüsselszenen wieder langsamer zu werden, beinah bis zur Zeitlupe. Wenn dies ein Film ist, dann hat sie ihre Rolle gut einstudiert. Sie kennt die ganze Vorgeschichte: Von ihrem Aufwachsen auf dem recht kleinen Landgut ihres Vaters., der zwar in England lebt, aber dänischer Herkunft ist, bis zu ihrer Verheiratung mit einem Engländer. Es gab viele Gründe, warum diese Ehe sinnvoll war, und die kreisten alle um Politik und Macht. Vor allem geht es darum, die Familie besser in das Land, in dem sie leben, zu integrieren. Ihr Vater hat versucht, sie zu trösten: mit der Position, die sie innehaben würde, als Gutsherrin. Aber sie hat nie Befriedigung darin gefunden, Macht über das Gesinde zu haben. Und an die Pflichten einer Ehefrau wird sie sich wohl nie gewöhnen: Sie ekelt sich schon beim bloßen Gedanken an sein schnaufendes Sich-Abmühen, meistens dann, wenn er mehr als gewöhnlich getrunken hat, um gleich darauf verschwitzt von ihrem Körper zu rutschen und einzuschlafen, begleitet von lautem Schnarchen. Bislang hat sie ihm noch keine Kinder geschenkt…
Vor allem deshalb ist sie erleichtert, weil ihr Gatte nun für lange Zeit fort sein wird. Wenigstens wird seine Seite des Bettes leer bleiben. Ansonsten verheißt seine Abwesenheit keine Verbesserung: Sein Bruder John ist dafür bekannt, dass er den Frauen nachstellt, ob Küchenmagd oder Frau eines Hörigen. Doch meistens hat er es auf die ganz jungen abgesehen. Schon oft sind Mägde zu ihr gekommen, um sich bitter zu beklagen. Es ist nicht nur die hässliche Narbe auf seiner linken Wange, die sie vor ihm zurückschrecken lässt: Er achtet nicht auf sich und sein Äußeres, riecht nach Schweiß und Bier und Branntwein. Die Pferdeknechte sind reinlicher als er.
Weil es ihr selbst nicht ansteht, dem Bruder ihres Gemahls Vorhaltungen zu machen, hat sie Richard gebeten, ihm ins Gewissen zu reden. Ihr selbst bleibt nichts anderes, als zu helfen, wenn eine der Weiber das Pech hat, schwanger zu werden. Dann bezahlt sie das alte Kräuterweib dafür, der Bedauernswerten ein Mittel zum Austreiben der Leibesfrucht zu verabreichen. Ihr Mitgefühl geht sogar so weit, den Betroffenen eine Schonzeit einzuräumen. Bis sie sich wieder erholt haben, lässt sie ihnen von der Köchin nährende Suppen bereiten.
Das einzige, was Richard auf ihre Bitte hin getan hat: Er hat John vorgeschlagen, zu heiraten. Der hat rundweg abgelehnt, mit der empörten Frage, ob sein Bruder ihm etwa einen Bauerntrampel zugedacht habe. Dabei hat er sie, Gunna, mit einem Blick gestreift, den sie lieber nicht deuten möchte.
Am Tag der Abreise ihres Gatten hat er ihr nach dem Abendessen anzüglich zugeflüstert: „Brauchst nur zu sagen, wenn ich dir nachts das Bett wärmen soll.“
Heute ist sie ihm im Pferdestall begegnet — obwohl es ihm angestanden hätte, ihr den Vortritt zu lassen, hat er sich so dicht an ihr vorbei gedrängt, dass er ihre Brüste gestreift hat.
Das Kaleidoskop der kurzen schnellen Szenen wird langsamer, und sie findet sich im Brauhaus neben Mort. Sie sprechen über John. Der spielt sich nun, da der Ältere auf Kreuzzug ist, als Gutsherr auf, hat kein gutes Wort für die Leute, will nur befehlen. Und wenn er getrunken hat, ohne jedes Maß, dann schlägt er auch zu. Die Leute sind mürrisch und verdrossen, gehen nur widerwillig an die Arbeit.
„Ich fürchte,“ sagt Mort, „wenn das so weitergeht, dann wird die Angst der Leute bald umschlagen in offene Rebellion.“
Gunna berichtet ihm, wie oft die Mägde sich über John beklagen, und dass selbst ihr Gemahl, als er noch hier war, nichts gegen sein Treiben ausrichten konnte — oder nicht wollte? Und dann gesteht sie, ohne darüber nachzudenken — denn sonst hätte sie dies ganz bestimmt für sich behalten: „So manches Mal habe ich mir schon gewünscht, er würde vom Pferd stürzen.“
Gleich darauf presst sie die rechte Hand vor den Mund. Als ihre Hand wieder sinkt, wird ein verlegenes Lächeln sichtbar: „Ich meine nur… wo er doch so viel trinkt und darauf besteht, ausgerechnet dieses Pferd zu reiten…“
„Ja… Unwahrscheinlich wäre ein solcher Unfall wohl nicht…“
Mort ist groß und dünn, dabei aber sehnig und gewandt, und seine Statur, zusammen mit seinen grün-braunen Augen, lassen Gunna oft an einen streunenden Kater denken. Und die Art, wie er jetzt diese grünen Augen zusammenkneift und nachdenklich ins Leere starrt, macht ihr Angst. Als ihre Augen groß werden vor Schreck berührt er für einen flüchtigen Moment ihre Schulter. „Keine Sorge,“ sagt er.
John reitet einen dunklen Rappen, dessen Temperament sehr gut zu ihm passt. Er gilt als unberechenbar. Wenige Tage nach dem Gespräch im Brauhaus stürzt John und wird an einem Steigbügel mitgeschleift. Als es schließlich jemandem gelingt, das Pferd zum Stehen zu bringen, ist nicht nur Johns Gesicht eine einzige Wunde: Sein Genick ist gebrochen.